Das große Tabu

Warum stehen so viele Paare ihre Kinderwunschbehandlung heimlich durch?

Ich sage es gleich vorweg: Ich bin ein Freund von Offenheit. Wer sich schon ein bisschen auf dieser Seite umgesehen hat, weiß das schon. Aber trotzdem kann ich verstehen, dass nicht jeder so frei heraus von seinen tiefen Hoffnungen und Enttäuschungen, Vaginalzäpfchen und Gebärmutterspiegelungen erzählt. Und selbstverständlich darf und muss jeder das selbst entscheiden. Ich habe mal darüber nachgedacht, was gute und weniger gute Gründe für Verheimlichungen sind.

"Es fühlt sich an, wie ein Makel. Es ist mir peinlich."

Diesen Grund kann man eigentlich nicht durchgehen lassen, finde ich. Niemand kann etwas dafür, wenn er Probleme bei der Fortpflanzung hat (vielleicht mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel wenn sich jemand hat sterilisieren lassen und es sich später anders überlegt hat). Ob man einfach so schwanger wird ist zum Großteil eine Glücksache. Einige haben dieses Glück, andere haben Pech. Außerdem werden es ständig mehr Paare, die auf medizinische Hilfe beim Kinderwunsch angewiesen sind. Es ist keine Seltenheit, es ist nicht selbstverschuldet. Es gibt keinen Grund sich zu schämen. Deswegen sollte es wirklich kein Tabuthema sein.

"Es geht einfach niemanden etwas an."

Mit dieser Begründung kann ich schon deutlich besser leben. Es stimmt. Ich würde ganz sicher auch nicht herausposaunen, wenn wir es gerade auf natürlichem Wege versuchen würden. Aber genau da besteht für mich persönlich der Unterschied: Wenn man natürlich schwanger werden kann, geschieht das in Intimität und Zweisamkeit, wo auch niemand von außen etwas zu suchen hat, wenn man das nicht möchte. Wenn ein Kind jedoch im Labor unter dem Mikroskop in einer Petrischale gezeugt wird, ist das für mich nicht mehr intim und privat. Leider. Aber es ist auch wiederum ganz gut, denn das macht es mir einfach, darüber zu sprechen und ich kann mit allen Schwierigkeiten im Leben besser fertig werden, wenn ich darüber rede.

"Wir möchten unsere Freunde und Familie überraschen."

Ich selbst habe aus genau diesem Grund eine unserer insgesamt vier ICSIs völlig im Geheimen durchgezogen. Es war jener Versuch, der zur Fehlgeburt geführt hat. Und dann hatte ich keine frohe Botschaft zu verkünden, sondern meine persönliche Tragödie mitzuteilen. Zwar hätte ich die Fehlgeburt auch verheimlichen können, aber erstens hätten meine nahestehenden Menschen sowieso gemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt, und zweitens brauchte ich einfach den Trost von außen. Ich fand den Gedanken unerträglich, dass niemand von dem verlorenen Kind erfahren würde. Schlimm genug, dass es nicht geblieben ist, und dann sollte das Leben einfach so weiter gehen, als wäre es niemals da gewesen? Das konnte ich einfach nicht ertragen. Mein Umfeld musste wissen, dass dort jemand war, der gegangen ist und ein riesiges Loch in meinem Herzen hinterlassen hat. 

Natürlich hätte es auch gut ausgehen können und dann wäre die freudige Überraschung groß gewesen und der Plan wäre aufgegangen. Man fühlt sich als Kinderwunsch-Paar ja schon manchmal dieser großen Enthüllung beraubt, wenn alle Leute wissen, dass man es schon lange versucht, und zum Teil auch mitfiebern, Daumen drücken oder gar finanziell unterstützen. Wenn das also euer Beweggrund ist, nur zu. Aber für mich war es ziemlich stressig, den Mund zu halten über das Thema, was mein Leben bedeutete. Und mich nicht aus Versehen zu verplappern und aufzupassen, dass niemand meine ganzen Arzttermine mitbekommt. Ich würde das, glaube ich, kein weiteres Mal aushalten.

"Ich habe Angst vor den Reaktionen."

Diesbezüglich schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Zum einen habe ich fast durchweg positive Reaktionen geerntet, wenn ich über unsere Kinderwunschbehandlung sprach. Oft waren die Leute ehrlich interessiert und fragten genauer nach. Ich war dann immer gerne bereit, mehr ins Detail zu gehen und so innerhalb meiner kleinen Reichweite für mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema zu sorgen. Manchmal, wenn jemand dumm gefragt hat, ob wir denn gar keine Kinder (mehr) wollen, hat meine sehr offene Antwort die Person ziemlich schnell ganz still werden lassen. Vielleicht überlegt sie sich beim nächsten Mal zweimal, ob sie so intime Fragen stellt. Ich bin aber wirklich kein einziges Mal kritisiert, verurteilt oder gar ausgelacht worden. Und die schlauen Ratschläge á la "Entspannt euch einfach, dann klappt es schon von ganz allein!" habe ich super ignorieren können.

Auf der anderen Seite kann ein so heikles, emotionsgeladenes Thema aber auch zu unangenehmen Gefühlen beim Gegenüber führen. Man versetzt seinen Gesprächspartner schon potenziell in die blöde Lage, nicht zu wissen, wie er oder sie reagieren soll. Vielleicht hat die Person Mitleid, weiß aber nicht, was sie sagen soll. Vielleicht war diejenige gerade im Begriff, ihre eigene Schwangerschaft zu verkünden, aber weiß jetzt nicht mehr, wie. Vielleicht fühlt sie sich (ungerechtfertigterweise!) schuldig, weil sie ganz einfach schwanger geworden ist. 

Ich weiß von mir selbst, dass ich gerade während der Behandlungszeiten, aber auch dazwischen, oft nur dieses eine Thema im Kopf hatte und am liebsten den ganzen Tag darüber geredet hätte, alle Eventualitäten durchgekaut, alle Chancen berechnet und alle Hoffnungen und Ängste geteilt. Bis zu einem gewissen Maß finde ich zwar, dass ich von meinen Freunden und Angehörigen erwarten darf, ihnen mein Leid klagen zu können und dass sie mir zuhören, mich trösten und mir beistehen. Aber wenn es so weit geht, dass ich keine Augen mehr für ihre Themen habe, ist es problematisch. Deshalb wäre für mich persönlich der Hauptgrund zur Einschränkung meiner Offenheit, das Wohlergehen meiner Mitmenschen, so komisch das auch klingt. 

Dieses Thema gehört definitiv in den öffentlichen Diskurs!

Inwiefern man sein privates Umfeld nun teilhaben lassen will oder nicht, muss man für sich selbst abwägen. Aber in der Öffentlich muss dieses Thema präsent sein, was einer der Gründe für diese Website ist. Es ist im Grunde unzumutbar, dass Paare für ihren Wunsch nach einem Kind so tief in die Tasche greifen müssen. Nur weil Unfruchtbarkeit nicht als Krankheit anerkannt ist, sind die Kassen nicht zu voller Übernahme der Kosten verpflichtet. Ich finde das ein absolutes Unding. Es darf keine Frage des Geldbeutels sein, ob man ein Kind bekommen darf oder nicht. Deshalb muss ein öffentlicher Druck auf die Politik aufgebaut werden, und das geht nur, wenn man laut ist.